Akuter und chronischer Tinnitus
Alle subjektiv wahrgenommenen Geräusche, denen eindeutig keine Schallquelle zugeordnet werden kann, entsprechen einem Tinnitus. Die Qualität der Geräusche ist dabei unerheblich (rauschen, summen, pfeifen, brummen, fiepen, etc.).
Der Tinnitus ist ein Symptom, keine Erkrankung, er entspricht einer Befindlichkeitsstörung mit besonderer Betonung auf der subjektiven Störung des Betroffenen.
Der Tinnitus ist für sich genommen keine Erkrankung und er ist auch keine Vorbote für irgendeine Erkrankung. Insbesondere ein Zusammenhang mit z.B. dem Schlaganfall oder Herzinfarkt ist wissenschaftlich nicht erkennbar oder nachweisbar.
Genau wie beim Hörsturz sind die genauen Ursachen für die Entstehung des Tinnitus völlig ungeklärt. Im Gegensatz zum Hörsturz ist nicht einmal eine Schädigung der Zellen im Hörorgan selbst wirklich nachweisbar. Man weiß also nicht einmal, wo der Tinnitus eigentlich wirklich entsteht, ob im Ohr oder im Gehirn. Allerdings deuten alle Erkenntnisse der letzten Jahre darauf hin, dass das Symptom Tinnitus im Gehirn bzw. in den die Hörinformationen verarbeitenden Zentren der Großhirnrinde entsteht. Auslöser können auch im peripheren Organ des Innenohres entstehen, jedoch findet man in den meisten Fällen keinen nachweisbaren Auslöser.
Ein Problem ist zusätzlich, dass ein sporadisch und kurzzeitig auftretender Tinnitus sogar als physiologisch, also „normal“, angesehen wird und bei nahezu jedem Menschen im Laufe des Lebens vorkommt. Ab welchem Zeitpunkt der Tinnitus also vom physiologischen zum pathologischen bzw. chronischen Tinnitus wechselt weiss man nicht. Der richtige Zeitpunkt der Einleitung einer Therapie ist daher sehr variabel und im Einzelfall zu entscheiden.
In den letzten Jahren verbreitet sich immer mehr die Überzeugung, dass der Tinnitus wahrscheinlich nur anfänglich im peripheren Hörorgan entsteht und es dann bei manchen Menschen zu einer zentralen „Verarbeitungsstörung“ kommt, die zu einer „Verselbständigung“ der Geräuschwahrnehmung auf Hirnebene führt, so dass das Geräusch subjektiv bestehen bleibt obwohl vom peripheren Hörorgan gar keine Hörinformation mehr kommt (am ehesten ähnlich zum „Phantomschmerz“, wo trotz amputierter Gliedmaße Schmerzen wahrgenommen werden, die also ausschließlich im Gehirn selbst generiert werden, ohne eine wirkliche Ursache im peripheren Organ). Man vermutet, dass so der Übergang vom physiologischen zum chronischen Tinnitus abläuft. Per definitionem spricht man von einem chronischen Tinnitus nach 3-monatigem Bestehen der Tinnitussymptomatik.
Es gibt keine diagnostische Möglichkeit den Tinnitus objektiv nachzuweisen.
Wenn man also weder die genauen Ursachen, noch den eigentlichen Entstehungsort oder Mechanismus kennt, der zur Entstehung von Tinnitus führt, kann man daher auch keine Therapie entwickeln, die die Ursache an sich bekämpfen oder heilen könnte. Man muss daher klar feststellen: Eine nachgewiesenermaßen wirksame Therapie existiert derzeit nicht.
Ich empfehle daher meistens einen Therapieversuch mit einem oralen Durchblutungsförderer wie z-B. Pentoxifyllin und bei Persistenz der Beschwerden und hohem subjektivem Leidensdruck ggf. die Einleitung einer durchblutungsfördernden und entzündungshemmenden Bolus-Infusionstherapie. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass diese Therapien, wie im Kapitel Hörsturz beschrieben, alle auf die Behandlung von Zellschädigungen im Hörorgan abzielen und daher bei anderen Entstehungsmechanismen nicht wirksam sind.
Der chronische Tinnitus kann heute, wenn er bereits seit Langem besteht und zu einem hohen Leidensdruck beim Patienten führt, sehr erfolgreich mit der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) behandelt werden.
Tinnitus-Retraining-Therapie
1. Schritt: Den Tinnitus verstehen lernen.
Zu Beginn der Behandlung steht eine eingehende HNO-ärztliche und komplette neurootologische Untersuchung, gefolgt von einem ausführlichen Gespräch über die Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Hörens und der Hörverarbeitung. Dabei werden dem Patienten die Entstehung, Prognose und Möglichkeiten der besseren Verarbeitung und Kompensationstechniken bezüglich des Tinnitus erläutert. Sinn dieser Erläuterung ist, dem Patienten die Angst vor dem Tinnitus zu nehmen, indem man das Problem begreifbar macht. Unterstützt durch eine Entspannungstherapie und/oder psychologische Beratung wird auf diesem Wege eine Abschwächung der emotionalen Reaktion auf den Tinnitus erreicht.
2. Schritt: Das unterbewusste Hörsystem schulen
Die Hörsignale, die über das Ohr ins Gehirn gelangen, werden in den Hörkernen, in denen das unterbewusste Hören stattfindet, bewertet und selektiert. Nur die Signale, die als wichtig erkannt werden, werden an die Höhrrinde, in der das bewusste Hören stattfindet, weiter geleitet. Beständige Reize werden üblicherweise schon nach kurzer Zeit nicht mehr an die Höhrrinde weiter geleitet und somit auch nicht mehr bewusst wahrgenommen. Bei chronischem Tinnitus ist diese Filterwirkung jedoch gestört, und die Ohrgeräusche erreichen fälschlicherweise das Bewusstsein.
Ziel der Retraining-Therapie ist es zu erreichen, dass der Tinnitus auf der subkortikalen Ebene ausgefiltert wird. Dies kann mithilfe so genannter Rauschgeneratoren (Noiser), kleiner akustischer Geräte, erreicht werden. Sie produzieren ein angenehmes, leises Geräusch, wie z. B. Rosa Rauschen. Hierdurch wird sowohl der Kontrast zwischen dem Tinnitus-Ohrgeräusch und dem Umgebungsschall verändert, als auch der unbewusste Wahrnehmungskreislauf unterbrochen. Das akustische System wird also von seiner am Tinnitus ausgerichteten Wahrnehmung allmählich wieder zurücktrainiert und bedingt damit die Abschwächung der Reaktion des Organismus auf das Tinnitus-Reizsignal (Habituation der Reaktion). Ebenso wird im Verlauf der TRT erlernt, sich wieder ausschließlich auf äußere Geräusche zu konzentrieren und die Wahrnehmung der Innengeräusche zu vernachlässigen (Habituation der Wahrnehmung). Die Einstellung der Geräte wird detailliert gelernt.
Diese Konditionierung des Gehirns erfolgt mit sorgfältiger Überwachung des Arztes und Psychologen und dauert ein bis anderthalb Jahre.
Mithilfe der Tinnitus-Retraining-Therapie lassen sich auch störende akustische Phänomene wie Hyperakusis und Phonophobie sehr erfolgreich behandeln.
Wichtiger Hinweis
Ob die Kosten für die Tinnitus-Retraining-Therapie von der Krankenkasse übernommen werden, muss im Einzelfall geklärt werden. Wir unterstützen den Patienten gerne bei seinen Verhandlungen mit der Krankenkasse.